Inzwischen bin ich über einen Monat in Mumbai, Indien. Die erste Euphorie – alles neu, alles anders, alles spanned – ist abgeklungen und man schaut etwas genauer hin. Hier ein paar Beobachtungen, bei denen Indien aus der Perspektive eines Europäers schlechter wegkommt:
Wir haben ja alle gelernt, schön brav „Guten Tag“, „Ja“ und „Danke“ zu sagen. Deswegen habe ich mir auch schön brav gemerkt, dass die Begrüßungsfloskel auf Hindi नमस्ते (Namastē) lautet, und auch शुक्रिया (Śukriyā) für Danke habe ich mir beibringen lassen. Leider habe ich das bisher nie im Alltag zu hören bekommen. Wenn ich in der Mensa sitze und vor mich hin futtere kommt es regelmäßig vor, dass ich von der Seite direkt mit „Which Country are you from?“ angesprochen werde. Nach „What department?“ (die beiden Fragen kommen immer) und vielleicht noch „B-tech or M-tech?“ (grob übersetzt: Vordiplom oder Hauptdiplom?) ist dann wieder Ruhe und mein Gesprächspartner steht plötzlich ohne ein Wort auf und geht. Bei einem Einkauf tauscht man Geld gegen Ware und geht – es gibt nicht einmal ein „Please come again“ wie es der indische Ladenbesitzer in der Serie „Die Simpons“ jedem Kunden hinterherruft. Die Rikscha-Fahrer, die zu manchen Zeiten nur gewisse Ziele ansteuern wollen, fahren ohne ein Wort davon, wenn man ein anderes Ziel nennt.
Eine Deutsche, die schon ein halbes Jahr Indien hinter sich hat, meinte dass sie das ganz angehm findet, weil ja diese Umgangsformen bei uns meist nur Floskeln sind und nicht ehrlich gemeint, und sie hat da natürlich nicht unrecht. Ich finde es trotzdem noch gewöhnungsbedürftig.
Aus irgend einem Grund haben Inder eine andere Krach-Toleranzschwelle. Hier ist alles lauter als bei uns: Im Straßenverkehr wird unablässig gehupt, im Grunde jedes mal wenn jemand anfährt, anhält, sich einem anderen Fahrzeug, einer Kreuzung oder einem Menschen nähert, bremst, beschleunigt und in allen anderen Fällen die ich jetzt vergessen habe. Bei einer (sonst sehr beeindruckenden) Tanzshow am IIT war die Musik lauter als die Boxen es vertragen, so dass die hohen Töne nur noch verzerrt herauskamen. Einer der Professoren verwendet ein Mikrofon für eine Klasse mit 18 Studenten, auch wieder laut eingestellt, und keiner scheint sich an den ab und zu auftretenden Rückkopplungen zu stören. In der Mensa, der Blechtabletts und -tassen zum Einsatz kommen, werden diese vom Personal nach dem abtrocknen auf einen Haufen geworfen, so dass es dauernd scheppert, während die Stühle, die ihre Plastiknoppen an den Beinen verloren haben, laut quietschend über den Boden schrammen. Überhaupt scheint mir die Architektur generell so gestaltet zu sein, dass jeglicher Krach nicht gedämpft, sondern verstärkt wird, etwa auch in einer Bowlingbahn, wo man sich nicht mehr unterhalten konnte.
Dagegen ist Deutschland eine Oase der Ruhe, und ich werde das sicher genießen wenn ich wieder zurück bin.
Die Engländer haben zwar etwa 200 Jahre in Indien geherrscht, aber die britsche Schlangestehen-Mentalität haben sie nicht installieren können. Und so denkt jeder nur an sich, wenn es darum geht, irgendwo rein-, raus- oder ranzukommen.
Bei der oben erwähnten Tanzschau („Annual In-sync Dance Show“, kurz AIDS – hat sich bei dem Akronym jemand etwas gedacht?) bildete sich vor der Eingangstür eine große, aufgeregte, drückende und rufende Menschentraube. Als dann die Tür aufgemacht wurde, drückten und schoben alle als wären sie die letzten auf der Titanic. Eine Glasscheibe der Tür ist, wenn ich es richtig mitbekommen habe, dabei zu Bruch gegangen. Ich habe mich beim Drücken zurückgehalten und kam als einer der letzten durch die Tür, obwohl ich länger als die meisten gewartet habe. Aber als ich dann in den Saal ging und einen Platz gesucht habe, konnte ich mich in die zweite Reihe setzen – der Saal war nicht mal voll.
Auch im Straßenverkehr ist das zu beobachten. Eine Rikscha versucht ständig links oder rechts an anderen Fahrzeugen vorbeizukommen, hupt, drängelt, überholt. Trotzdem war nach fünf Minuten stressiger Fahrt plötzlich wieder der gleiche Kleinlaster neben uns. Wären alle in ihrer Spur (heh, „Spur“. Netter deutscher Gedanke) geblieben wäre auch keiner später angekommen.
Bei Bussen und Bahnen ist es ähnlich, alles drückt sich gleichzeitig rein und raus. Hier kann man es allerdings nachvollziehen: Die Züge sind manchmal wirklich so voll, dass nicht alle reinpassen, und sie halten nur sehr kurz, so dass man sich beeilen muss. Trotzdem glaube ich dass „Erst ausstiegen lassen, dann einsteigen“ auch hier schneller wäre.
Dieser Punkt fällt ein bisschen aus der Reihe, weil es nur ein Problem für sprachunbegabte Ausländer wie mich ist. Man hört und liest zwar vor der Reise nach Indien, dass hier jeder Englisch spricht und man damit problemlos durchkommt. Das stimmt soweit auch, aber man sollte nicht denken dass man deswegen auch versteht was Inder untereinander sprechen – hier ist Hindi oder eine der anderen indischen Sprachen die Regel. Für mich ist das schade, weil ich einfach weniger mitbekomme was die Menschen hier beschäftigt und ich mich nicht in Gespräche einklinken kann. Auch werden fast alle indischen Filme hier auf Hindi gezeigt, also wieder keine Möglichkeit für mich hier am Alltag teilzunehmen. Und wenn man in etwas ärmere Gegenden geht, was ich bewusst versuche, etwa um sich Rasieren zu lassen oder sich eine Hose schneidern zu lassen, reicht das Englisch der Menschen dort vielleicht gerade noch für das Geschäftliche, aber schon für Feinheiten beim Hostenbestellen langt es nicht mehr, geschweige denn für einen echten Gedankenaustausch.
Das war in Ghana anders: Dort gibt es wohl keine ähnlich vorherschende lokale Sprache wie Hindi hier und man war mit Englisch gut dabei. Natürlich ist es nicht erstrebeswert wenn ein Volk (naja, eine Nation) eine fremde Sprache verwenden muss – für mich wärs geschickt.
Es gäbe noch mehr zu erzählen, etwa dass es keinen stört dass die Studenten in der Mensa das Essen erstmal befingern, bevor sie sich für ein Stück Frucht, Gurke oder Samosa (Teigtaschen) entscheiden, aber es muss ja auch mal wieder Schluss sein mit Jammern. Und es gibt natürlich auch sehr gute Seiten, etwa die ausgesprochene Hilfsbereitschaft, die an dieser Stelle nicht zur Sprache kamen.
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